Wo waere der wuerdige Ort, um nach unserer Reise die schweizer Grenze zu passieren? Diese Frage stellten wir uns schon in Los Angeles, als wir uns entschieden hatten, in Europa weiterzufahren. Erst ein verwegener Gedanke, dann ein verruecktes Ziel: Das Stilfserjoch oder Passo dello Stelvio. Mit 2757 m.ue.M. ist die "Koenigin der Alpenpaesse" eine der hoechsten Alpenstrassen. Das schmale Asphaltband fuehrt von Prato her mit 48 Kehren ueber 1800 Hoehenmeter gnadenlos bergauf. Von der Passhoehe koennten wir zum Umbrailpass rollen, wo wir auf 2505 m.ue.M. die Grenze zur Schweiz ueberqueren wuerden. Eine Schnapsidee?
Die Idee sass in unseren Koepfen und liess uns keine Ruhe mehr. Wir schwiegen allerdings ueber dieses Vorhaben, zu oft hatten wir unsere Plaene abgeaendert. Weil wir in Frankreich ja auf der falschen Seite der Schweiz waren, mussten wir fuer das Stilfserjoch erst mal unser Land umrunden. So ergab sich unsere Route durch Sueddeutschland und Oesterreich nach Prato, wo wir am 2. Juni 2005, exakt 13 Monate nach unserer Abreise eintrafen. Samstag war eigentlich nicht der ideale Tag, da viel zu viele Motorradfahrer unterwegs waren. Aber das Wetter war perfekt und es juckte uns so unter den Naegeln, dass wir einfach losfahren mussten. Die Herzen klopften schon wild, bevor es bergauf ging. Ob wir es schaffen? Wieviel muessen wir schieben?
Wir fassten den Entschluss, den Aufstieg auf zwei Tage zu verteilen und noch am Samstagnachmittag zu starten. Nach Prato begann die Strasse gleich knackig zu steigen. Rechterhand toste der wilde Bergbach, weit hinten im Tal blinzelte ein kleiner Flecken Gletscher. Bald mussten wir in den kleinsten Gang schalten. Wir suchten einen regelmaessigen Rhythmus. Langsam aber stetig gewannen wir an Hoehe. Volle Kraft auf die Pedale. Wir waren eins mit dem Tandem und dem Berg. Unsere Beine fuehlten sich gut an, unheimlich gut sogar. In regelmaessigen Abstaenden legten wir kurze Verpflegunghalte ein. Riegel um Riegel verschwanden in unseren Muendern. Radfahrer zogen an uns vorbei und nickten uns aufmunternd zu. Dann die erste Haarnadelkurve mit dem Schild "48. Kehre/Tornante". Die Kehren sind rueckwaerts numeriert und zeigen erbarmungslos, wieviel noch fehlt bis auf den Pass. Das Tal oeffnete sich ein wenig und wir wussten wieder, warum uns dieser Pass so fasziniert: Riesige schroffe Felswaende ragten in den blauen Himmel, weisse Gletscherzungen blitzten im Sonnenlicht, einfach gewaltig! Wir passierten Trafoi, die letzte Ortschaft mit alten Hotelkaesten. Die Rampen durch den Nadelwald wurden steiler. Die Linkskehren waren kein Problem, die Rechtskehren der schmalen Strasse eine Herausforderung fuer den Steuermann. Der Asphaltbelag ist auf der Kurveninnenseite krass steil. Kratzspuren zeugen vom Bodenkontakt der Autos. Wir hofften jedesmal, dass die Fahrbahn nach unten und nach oben frei ist, damit wir weit ausholen und unser 3.5 m langes Gefaehrt um die Kurve lenken konnten. Das Gluecksgefuehl, das uns von Kopf bis Fuss durchstroemte, wurde mit jeder Kehre groesser. An der Waldgrenze der beruehmt-beruechtigte Anblick der "Wand": Ploetzlich war der verbleibende Rest des Aufstiegs auf einen Blick sichtbar. Wie ein Adlerhorst weit oben die Gebauede auf der Passhoehe, darunter die steile Bergflanke mit dem Zickzack der letzten 26 Kehren der Strasse. Dieser gewaltige Anblick ist es, der den Mythos des Stilfserjochs ausmacht. Wer als Radfahrer hier noch genug Kraft in den Beinen hat, der jubelt. Wer schon am Kaempfen ist, dem stockt das Blut in den Adern.
Nach vier Stunden Aufstieg erreichten wir das Berggasthaus "Franzenshoehe". Zwei Drittel des Passes waren gemeistert. Mit einem Riesenlachen im Gesicht trugen wir die Taschen in unser Zimmer hinauf. Wir waren wie auf Droge, aber eine natuerliche, ein unbeschreiblicher Glueckszustand! Unter den rot-weiss karierten Daunendecken schliefen wir wie Steine, bis uns der Wecker um 4 Uhr aus den Traeumen riss. Mit der Daemmerung sassen wir um 5 Uhr bereits wieder auf dem Tandem. Wir wollten die Passhoehe erreicht haben, bevor der grosse Sonntagsrummel losbrach. Die Morgenstimmung war sagenhaft. Kuehle, glasklare Morgenluft, ein wolkenloser Himmel, die Bergriesen und Gletscher lagen majestaetisch im Daemmerlicht, kein Laut war zu hoeren. Kehre um Kehre arbeiteten wir ums empor, 22 fehlten noch. Die Sonne tauchte eine erste Bergspitze in zartes Rosa, dann eine zweite und dann die Passhoehe. Eine Inszenierung wie im Theater, wir als einzige Zuschauer, ganz alleine. Die letzten 10 Kehren zaehlten wir lauthals mit. Und dann, das braune Schild, die Passhoehe! Ein Jauchzer, ein fantastisches Triumphgefuehl. Wir fielen uns in die Arme, ein sehr bewegender Moment. Davon hatten wir fuenf Monate getraeumt. Jetzt haben wir es geschafft und jeden Meter genossen.
Wir waren um 7 Uhr noch fast allein auf der Passhoehe. Nur ein Moench in schwarzer Kutte begab sich zur kleinen Kapelle. Wir taten es ihm gleich und zuendeten ein Kerzchen an. Bald ging der Rummel los. Am Morgen fuehrte der "Dreilaender-Giro" mit 3000 Radfahrern ueber das Stilfserjoch, wofuer die Strasse fuer drei Stunden gesperrt wurde. Gleichzeitig fand ein Motorradfest auf dem Pass statt. Das organisatorische Chaos war vorprogrammiert. Es sah schoen aus, wie die nicht endend wollende Kette von Radfahrern jeden Alters langsam die Kehren raufzog. Wir feuerten die Sportler lautstark an. Das Stilfserjoch war fuer sie erst der Beginn, sie hatten noch den Ofen- und den Reschenpass vor sich. Dann war es vorbei mit der Ruhe. Tausende von laermenden und stinkenden Motorradfahrern draengleten den Pass hoch, ein Inferno! Welch ein Gegensatz zur friedlichen und ruhigen Radsportveranstaltung, was fuer eine Faust aufs Auge in dieser grandiosen Bergwelt! Wir fluechteten so schnell wie moeglich die kurze Abfahrt hinunter zum Umbrailpass, wo wir abseits des Gedraenges die schweizer Grenze passierten und uns im Restaurant das erste Rivella genehmigten. Die steile und lange Abfahrt den Umbrailpass runter brachte uns nach Santa Maria in Muestair, wo wir auf dem Zeltplatz unseren Beinen einen Ruhetag goennten.
Posted by tandem-adventure
at 2:17 PM BST
Updated: Thursday, 7 July 2005 2:44 PM BST