Am Ufer der Creuse: Ruinen werden zu neuem Leben erweckt
Wir verbrachten vier spannende Tage im Schloss von Madame D. Nach unserer Ankunft genossen wir eine Dusche, danach zeigte uns die Gastgeberin stolz ihren Park. Rund um das Schloss hatte sie verschiedene Gaerten erstellt. Wir schlenderten durch den Garten voller weisser Blumen, den Gemuesegarten, die Glyzinenlauben, den Mini-Rebberg, den Obstgarten und den Buchsgarten. Anschliessend lud sie uns ein in den Salon, wo sie alle unsere Erlebnisse seit dem Cezallier hoeren wollte. Dabei vergass sie die Pizza im Ofen, wir hatten ein recht knuspriges Nachtessen.
Unsere Zweizimmerwohnung in der ehemaligen Backstube war ein kleines Bijou. Vom Haarfoehn uber das Buegeleisen bis hin zur Saftpresse war alles vorhanden, es fehlte an nichts. Vom Schlafzimmer im Dachstock hatten wir Sicht auf das Schloss mit den vier Rundtuermen. Dieses stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist ein schmucker, formschoener Bau. Zum Schlossgut gehoert ein ehemaliger Bauernhof mit grossen Scheunen, der Park und mehrere Hektaren Wald und Weiden. Es war alles in einem erbaermlichen Zustand, als Madame D. das Anwesen vor 14 Jahren kaufte. Die Leute im Doerfchen schuettelten nur den Kopf ueber die Frau, die eine solch ruinoese Anlage erwirbt. Die ehemalige Antiquitaetenhaendlerin hat eine besondere Leidenschaft. Sie kauft dem Zerfall ueberlassene Bauwerke, restauriert sie stilvoll und mit viel Fachwissen und haucht ihnen neues Leben ein. Mit einem immensen Arbeitseinsatz legt sie selber Hand an. Sie ist Historikerin, Bauarbeiterin, Architektin, Gaertnerin und Managerin in einem. Man sieht dem quirligen, weisshaarigen Energiebuendel die 70 Jahre gar nicht an. So besitzt sie inzwischen an verschiedenen Orten Frankreichs solche restaurierten Haeuser als Ferienwohnungen, die sie aber nicht fuer sich behaelt, sondern vermietet. Sie haucht den Gebaeuden nicht nur materiell wieder Leben ein, sondern haelt die Tueren offen fuer Freunde, Bekannte und Anwohner. Dadurch fuellen sich die Mauern wieder mit Leben und gewinnen ihre fruehere Bedeutung zuruck. Hier im Schloss hat sie in den Nebengebaeuden drei Ferienwohnungen eingerichtet. Das Swimmingpool im Park steht zu gewissen Zeiten den Einwohnern der Gemeinde zur Verfuegung. Durch ihre Offenheit und Kontaktfreudigkeit hat sie sich ein grosses Beziehungsnetz aufgebaut. Freunde gehen im Schloss ein und aus, man trifft sich hier und dort zum Diner. Dies aber ganz formlos und locker. Sie stammt zwar aus gutem Hause und hat immer in "grossen" Haeusern mit vielen Dienstboten gelebt, hasst aber alles vornehme und noble Getue. Auch ihre Garderobe, ihr Auto und ihre Manieren sind einfach "normal" keine Spur von versnobt. Sie erzaehlte uns manche lustige Geschichte, wie sie mit ihrer direkten Art vornehme Herrschaften vor den Kopf gestossen hatte. Sie schaetzt es gar nicht, wenn man zu ihr wie zu einer "Schlossherrin" heraufschaut. Sie wohnt hier nicht aus Prestigegruenden, sondern einfach weil sie Freude an diesem Gebaeude hat. Andere geben ihr Erspartes fuer Reisen, Schmuck oder Autos aus, sie eben fuer ihr Haus.
Der erste Tag war ausgefuellt mit Kleider waschen, Tandem putzen und Einkaufen. Am Abend fuhren wir mit Madame D. in die "Fabrik". Tags zuvor waren wir in St. Pierre daran vorbeigefahren und hatten uns gefragt, was da wohl mal produziert wurde. Es war eine Destillerie, in der wahrend des 2. Weltkrieges aus Zuckerrueben Alkohol hergestellt wurde. Jahrelang schlummerte die Fabrikruine vor sich hin. Das Dach war loechrig, was nicht niet- und nagelfest war wurde gestohlen, Vandalen versprayten die Mauern, der grosse Umschwung war voellig verbuscht und glich einer Abfallhalde. Madame D. macht ihre Freundin Helen, welche einen Ort fur Ateliers suchte, darauf aufmerksam. Fur die Plaene von Helen war dieser Ort wie geschaffen. Ein kleines und ein grosses Wohnhaus, die sich mit vertretbarem Aufwand wieder herrichten liessen, ein hohes Fabrikgebaeude mit interessanter Architektur, in dem sich kunftig Ateliers fuer Kunstschaffende und Probelokale fuer Theater einrichten lassen. Weiter gehoert eine Lagerhalle und ein grosser Umschwung mit mehreren Teichen dirkt am Fluss dazu. Die Fabrik liegt also nicht in einem Industriegebiet oder an einer Autobahn, sondern mitten im Gruenen an ruhiger Lage. Niemand nahm Helen und ihre Kollegen ernst, als sie mit den Renovationsarbeiten anfingen. Madame D. unterstuetzte sie aber mit Rat und Tat. Was der kleine Bautrupp innerhalb eines Jahres auf die Beine gestellt hat, verschlug uns glatt den Atem. Wir sahen auf Fotos den frueheren ruinoesen Zustand und auf einem Rundgang durch das Areal die geleistete Arbeit. Die Daecher wurden alle neu gedeckt, der broeckelnde Betonkamin mit professioneller Hilfe saniert, die Fassaden neu verputzt, die beiden Wohnhaeuser bewohnbar gemacht, das Buschwerk gerodet und ein Gemueangelegt. Es bleibt noch viel zu tun, aber was hier in Eigenregie geleistet wurde, war sehr beeindruckend. Der Kamin war in so desolatem Zustand, dass er wegen Einsturzgefahr haette abgebrochen werden sollen. Madame D. machte sich aber fuer eine Sanierung stark, weil dieser einfach zum Bild der Fabrik gehoert. Er hat einen ganz speziellen Querschnitt, wie eine sechsblaettrige Blume und ist heute das Schmuckstueck des Areals.
Wir verbrachten bei den "Fabriklern" einen aeusserst spannenden, lauen Sommerabend. Die Fleisch- und Wurstlieferungen vom Grill wollten kein Ende nehmen. Wir lauschten gespannt den Geschichten ueber die Fabrik und die andern wollten alles ueber unsere Reise erfahren. Nach dem Dessert schaltete der Lichtregisseur Bruno zu spaeter Stunde seine Beleucthung ein. Es war wie auf einer Theaterbuehne mit der professionell in Szene gesetzten Fabrikhalle und dem in den Nachthimmel leuchtenden Kamin. Auch hier hatten wir wieder ganz tolle Menschen kennengelernt und einen unvergesslichen Abend verbracht.
Mit dem unbeladenen Tandem unternahmen wir einen Tagesausflug zu den Etangs im Parc National de la Brenne. Hunderte von Teichen wurden frueher unter anderem fuer die Fischzucht angelegt und bilden eine ganz spezielle Landschaft. In einer Autogarage durften wir die Werkstatt benutzen, um eine neue Trommelbremse zu montieren. Das zweite Exemplar, erst im Maerz in Los Angeles gekauft, vibrierte und quietschte immer schlimmer. Wir erhielten aus der Schweiz eine neue Bremse, fuer deren Montage ein grosser, schwerer Schluessel notwendig ist, den wir aus Gewichtsgruenden nicht mitschleppen koennen.
Bei einem Nachtessen im Schloss lernten wir Thoma kennen, der ganz in der Naehe ebenfalls etwas Bemerkenswertes auf die Beine gestellt hat. Am naechsten Tag durften wir bei ihm vorbeischauen, wir ueberraschten den Kostuemschneider mit einem frischen Zopf. Er hat mit einem Kollegen zusammen vor 13 Jahren ein verlottertes, zweiteiliges Bauernhaus gekauft. Mit lauter Materialien aus alten Abbruchhaeusern haben sie ein Schmuckstueck erschaffen. Tonplatten fuer die Fussboeden, Holzbalken fuer die Decken, hoelzerne Treppen, Fenster, Tueren und Cheminees wurden zusammengetragen. Man sieht dies dem Sammelsurium aber gar nicht an, das Haus sieht aus, wie wenn es schon immer so gewesen waere. Wiederum ein verblueffendes Beispiel, wie alten Mauern neuse Leben gegeben wird. Ohne die fachliche und moralische Unterstuetzung von Madame D. haetten die beiden den immensen Aufwand aber nicht gewagt - heute leben sie in einem Bijou. Auch bei ihnen stehen die Tueren fuer bekannte oder unbekannte Gaeste weit offen.
Bei intensiven Gespraechen verbrachten wir einen letzten Abend in der Schlosskueche. Die weise Dame beeindruckt uns tief mit ihrem Wissen und ihrer Lebenserfahrung. Speziell ein Satz, den sie schon im Cezallier ausgesprochen hatte, blieb uns haften: "Il n a pas trop de gens pour aimer"!
Posted by tandem-adventure
at 8:48 AM BST
Updated: Tuesday, 21 June 2005 9:52 AM BST